Fünf Uhr morgens.

Es ist fünf Uhr morgens. Samstag. Ich stehe an der Haltestelle. Der Bus Nummer 13, von manchen Einwohnern hier „Wilde Dreizehn“ genannt, spuckt ein paar Nachtschwärmer aus. Ein Mädchen versucht, ihren komplett durchalkoholisierten Begleiter vermutlich in Richtung Bett zu lotsen. Sie hat ihre Mühe.

Der Bus ist fast leer, doch an jeder Station steigen viele müde Gesichter ein. Genauso viele wie an einem normalen Werktag. Männer mit Umhängetaschen, Frauen mit übergroßen Handtaschen oder mit Rucksäcken, an denen kleine Stofftiere baumeln. Man begrüßt sich, man kennt sich, doch dann schweigen die Meisten. Viele schließen noch für einen Augenblick die Augen, bevor der Arbeitstag beginnt. Alle Hautfarben sind vertreten, die Kleidung bewegt sich fast immer im grauen Bereich. Zwei bis drei Stationen vor dem Bahnhof Veddel ist der Bus voll. Ein paar aufgekratzte junge Frauen in Nachtschwärmer-Klamotten wirken wie Paradiesvögel in diesem übermüdeten Bus. Eine Szene, die so gar nichts mit der Büro-Wirklichkeit zu tun hat, wie ich sie in Hamburg sonst erlebe.

Fünf Uhr dreißig, die S-Bahn kommt, auch sie ist voll. Hafenarbeiter tragen schon ihre grellfarbenen Schutzjacken. Ich denke, dass alle diese Menschen unterwegs zu ihrer Schicht sind. Wahrscheinlich gehören sie zu denen, die unsere Infrastruktur aufrecht erhalten. In Krankenhäusern, in Bussen und Bahnen, in Hotels, Bahnhöfen, Flughäfen und so weiter. Vielleicht ist es albern, aber heute morgen bin ich total fasziniert von dieser schweigenden Armee, die über die Elbbrücken in Richtung Innenstadt unterwegs ist.

Die Nachtschwärmer-Mädels haben es sich in meiner Nähe bequem gemacht. Ihr Gespräch dreht sich darum, wer in der vergangenen Nacht wen geküsst oder nicht geküsst hat und wer deshalb eine Schlampe ist. Ach ja, und die Kopfhörer vom Handy sind kaputt, da werden neue gebraucht, natürlich in weiß. Gegenüber sitzt ein junger Mann in einem mittelalterlichen Mönchsgewand. Kommt er von einer Halloween-Party oder ist er unterwegs zu einem Ritterturnier? Er trägt Jeans unter der Kutte, also ist er offensichtlich kein Zeitreisender.

Der Dammtor-Bahnhof ist völlig leer und mit Bildern von Kürbisfratzen geschmückt. Bahnhöfe sind heute auch Erlebnis- und Konsumräume. Vor ein paar Monaten in Polen war ich völlig fasziniert von einem Bahnhof, der nichts als ein Bahnhof war. Egal, da kommt mein ICE. Ich steige ein – und bin allein.

29. Oktober 2011